Rhetorischer Humanismus: Eine Wissensgeschichte des ›Gesprächs‹ in der frühen Bundesrepublik (1947–1968)  

Dissertationsprojekt von Lukas Rathjen

Zwischen 1947 und 1968 erfreute sich das Genre des öffentlichen ›Gesprächs‹ in der Bundesrepublik Deutschland hoher Popularität. Vor dem Hintergrund von Nationalsozialismus, Weltkrieg und Holocaust und im Angesicht von Demokratisierung und Reeducation avancierte es zum bevorzugten Modus der Kommunikation – insbesondere unter Intellektuellen. Das Forschungsprojekt untersucht Wissen und Technik dieser neuen Kommunikationsform nach 1945 am Beispiel von drei Formaten und sechs Kontexten: Das ›Gespräch‹ als öffentliche Präsenzveranstaltung (»Darmstädter Gespräche«, »Kölner Mittwochgespräche«), das ›Gespräch‹ im Rundfunk (»Abendstudio«, »Nachtstudio«) sowie das ›Gespräch‹ in Literatur und Wissenschaft (»Gruppe 47«, »Poetik und Hermeneutik«).

Im Rückgriff auf Protokollbände, Dokumente, Presseberichte, Briefe, Fotografien sowie Audio- und Videoaufnahmen in diversen Archiven wird die dem ›Gespräch‹ eigene humanistische Rhetorik auf ihre kommunikative, epistemische und soziale Funktion hin untersucht. Damit wird einerseits das den Aufbau und die Reproduktion dieses Kommunikationszusammenhangs gewährleistende Wissen herausgearbeitet; andererseits die Wissensgehalte im ›Gespräch‹ in ihrer spezifischen Existenzweise – in ihrem Erscheinen sowie Nicht-Erscheinen – beschrieben. Erstere Perspektive macht die epistemischen und technischen Anstrengungen sichtbar, die nach Krieg und Massenmord von Nöten waren, um zwischenmenschliche Kommunikation zu ermöglichen (Wissen des Gesprächs); letztere erklärt wieso diese Kommunikation zugleich die Praxis sein musste, die gewisse Tatbestände und Realitäten verschwieg (Wissen im Gespräch). Mit Instrumenten der Wissensgeschichte und Dekonstruktion wird so die Gleichzeitigkeit von Kommunikation und Schweigen in der deutschen Nachkriegszeit in den Blick genommen.

Dieses Promotionsprojekt wird durch den Schweizerischen Nationalfonds gefördert.

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